Katholiken und Orthodoxe sind Schwesterkirchen – und doch gibt es zwischen ihnen die Unierten

Ein Herz und eine Seele soll die Kirche gemäß Apg 4,22 sein. Doch gilt, wie das 2. Vatikanische Konzil formulierte: "das von den Aposteln überkommene Erbe wurde in verschiedenen Formen und auf verschiedene Weise übernommen, und schon von Anfang an in der Kirche hier und dort verschieden ausgelegt"[1]. Einheit der Kirche bedeutete nie Einheitlichkeit bei der Sakramentenspendung, gleichlautendes Verkündigen der göttlichen Botschaft oder Festhalten an einer einheitlichen Kirchenordnung. Auch war die Einheit immer wieder aufs Neue zu suchen, denn sie war in der Kirchengeschichte oftmals gebrochen, und sie ist es auch heute.

Schon zur Zeit der Apostel musste sich die Kirche um die Einheit mühen. Sogar eine Weihestufe des kirchlichen Dienstamts, das Diakonat, setzten die Apostel ein, als es zu Spannungen gekommen war wegen der Versorgung der Witwen, und auf dem sogenannten Apostelkonzil fällten sie eine Grundsatzentscheidung, weil Streit aufgekommen war, ob Unbeschnittene getauft werden dürfen, wenn sie die mosaischen Frömmigkeitsbräuche nicht übernahmen.

Seit apostolischer Zeit gilt, dass die Kircheneinheit sich keineswegs an der Gleichförmigkeit aller Ortskirchen erweist, dass sie vielmehr dann besteht,

· wenn sich die Ortskirchen trotz Verschiedenheit auf ein und dasselbe Evangelium Christi bezogen wissen,

· wenn sie denselben Heilsdienst an ihren Gläubigen verrichten dürfen,

· wenn sie sich nach Kräften wechselseitig fördern und die Gläubigen aus den anderen Kirchen zu ihren Gottesdiensten zulassen.

Sooft in der zweitausendjährigen Kirchengeschichte eine Spaltung zu bereinigen war, die sich aufzutun drohte oder sich schon aufgetan hatte, war somit zu fragen:

1) nach der Spendung der heiligen Sakramente auf beiden Seiten der bereits erfolgten bzw. der drohenden Spaltung,

2) nach der beiderseitigen Treue zur Glaubensüberlieferung,

3) nach dem rechten Befolgen der Kirchenordnung durch beide Parteien.

Diese drei Punkte waren stets zu überprüfen, wenngleich das Gewicht wechselte, das die Theologie der jeweiligen Epoche auf den einen oder den anderen Punkt legte.

1) Die Spendung der heiligen Sakramente

Die Gewichtung, die dem ersten von den drei Punkten in altkirchlicher Zeit erteilt worden war, lebte jüngst wieder auf, als man beim Studium der Ekklesiologie anfing, wieder besonderen Wert auf die eucharistische Grundausrichtung der Kirche zu legen. Wegen der sieben gemeinsamen ökumenischen Konzilien in der Spätantike pflegt man die damalige griechisch-lateinische Reichskirche "ungeteilt" zu nennen, obwohl sich bei genauem Zusehen ergibt, dass Rom und Konstantinopel zur Zeit dieser Konzilien insgesamt mehr als 200 Jahre zueinander im Schisma lebten.[2]) Doch damals hielten sich die lateinischen und die griechischen Bischöfe trotz des Fehlens der Communio zwischen ihren Kirchen aufgrund der weiterhin bestehenden Gemeinsamkeit in den Sakramenten und im Heilsdienst für zusammengehörig genug, um gemeinsam Konzilien feiern zu dürfen und auf ihnen miteinander für die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche Sorge zu tragen.[3] Die Bischöfe der Griechen und der Lateiner suchten konziliär nach einer Lösung für die Probleme, welche die Communio verhinderten, und sobald eine solche gefunden war, hielten sie sich für ermächtigt, die Communio wieder aufzunehmen. Für unsere Historiker sind die gemeinsamen Konzilien Grund genug, die damalige griechisch-lateinische Reichskirche trotz der Schismen schlechterdings "ungeteilt" zu nennen.

Auch das 2. Vatikanische Konzil bezog sich in seiner Ekklesiologie auf die Sakramentenspendung und stellte heraus, dass überall, wo in der Kraft der apostolischen Sukzession das Priestertum und die Eucharistie zu finden sind, sich durch die Feier der Eucharistie des Herrn die Kirche Gottes aufbaut und wächst.[4] Es anerkannte damit ausdrücklich und offiziell, dass die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche auch jenseits der Grenzen der römischen Communio gefunden wird. Der Begriff von Schwesterkirchen in unvollkommener Gemeinschaft kam so ins zwischenkirchliche Gespräch. Papst Johannes Paul II. bestätigte die Amtlichkeit dieser Sichtweise ausdrücklich, als er am 5. Juni 1991 in der orthodoxen Kathedrale von Białystok ausführte: "Heute sehen wir klarer und verstehen besser, dass unsere Kirchen Schwesterkirchen sind. Der Ausdruck Schwesterkirchen ist keine bloße Höflichkeitsformel, sondern eine wirkliche ökumenische Kategorie der Ekklesiologie. Auf ihr müssen die wechselseitigen Beziehungen zwischen allen Kirchen aufbauen ..."[5]

Doch die Kircheneinheit kann nicht allein aus der Sakramentenlehre definiert werden, vielmehr sind auch die beiden anderen oben benannten Fragenkreise zu berücksichtigen. Folglich konnte nicht jegliche innerkatholische Diskussion über den Begriff „Schwesterkirchen“ und über das „subsistit“ aus „Lumen gentium“, Art. 8, allein durch einen Verweis auf diesen Gesichtspunkt beendet werden. Trotz aller noch offenen Fragen ist aber festzuhalten, dass die genannten Aussagen es für katholische Theologen unmöglich machen, die Grenze der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche dort zu suchen, wo die Grenze der römischen Communio verläuft.

Auch in den Dokumenten der offiziellen katholisch-orthodoxen Dialogkommission – sowohl in den Dokumenten jener Kommission, die 1980 die Arbeit aufnahm, als auch in der Erklärung von Ravenna der Folgekommission – sind die Aussagen zur Ekklesiologie mit Blick auf die eucharistische Grundausrichtung der Kirche formuliert. Doch geht aus den Texten nicht mit Eindeutigkeit hervor, ob die Kommissionsmitglieder bei den eucharistisch fundierten ekklesiologischen Aussagen neben den Kirchen ihrer eigenen Communio auch jene der Communio ihrer Dialogpartner im Blick hatten. Die katholischen Mitglieder der Kommission wären diesbezüglich zu einer klaren Aussage ermächtigt gewesen, konnten aber ihre Zustimmung zur Ekklesialität der orthodoxen Kirchen nicht in den gemeinsamen Text einbringen, da die Gegenseitigkeit einer entsprechenden Aussage nicht gewährleistet war.

Nr. 23 der Erklärung von Ravenna verursacht Zweifel, ob die orthodoxen Mitglieder einer entsprechenden Klarstellung zugestimmt hätten, denn dort findet sich die recht pauschale Empfehlung, bei Bischofsweihen möge man die in nächster Umgebung residierenden Bischöfe von Schwesterkirchen einladen. Solche Schwesterkirchen wären nach katholischer Auffassung in Wien, wenn dort ein neuer Erzbischof zu weihen ist, die Bistümer der Griechen, der Russen, der Armenier und der Kopten, weil ihre Bischöfe nicht nur nahe, sondern sogar in derselben Stadt residieren. Angesichts des heutigen Wiener „ökumenischen Klimas“ würden sie zweifellos eingeladen werden und auch kommen. Dürften sie dann aber mehr tun als dem neuen Wiener Erzbischof bürgerlich-höflichen Respekt erweisen? Will Nr. 23 wirklich ihr Mitwirken an der Weihehandlung befürworten? Oder ist diese Aufforderung nur der Beweis dafür, dass die Kommission in ihrem Text zwar ein Ideal aufzeigen wollte für ekklesiologisch fundiertes Reden über die Kirche, es aber offen ließ, auf welche Gemeinschaften die vorbildliche Rede bezogen werden darf? Dass sie deshalb auf eine Formel verfiel, der offenkundig nicht ohne weiteres voll nachgekommen werden kann? (Auf sogar noch mehr Schwierigkeiten als in Wien stieße der Text von Nr. 23 gegenwärtig zum Beispiel in Lemberg oder in Kiev.)

In den orthodoxen Kirchen gibt es zahlreiche Theologen und Kirchenführer, welche die Kirchen der lateinischen Katholiken und der Unierten in ähnlicher Weise und aus eben demselben Grund, wie es das 2. Vatikanische Konzil den orthodoxen Kirchen gegenüber tat, als wirkliche Kirchen Christi anerkennen. Doch ist dies nur ihre persönliche theologische Position. Denn solange es unter ausdrücklicher oder auch nur unter stillschweigender Billigung durch die zuständigen Kirchenleitungen geschehen kann, dass Katholiken bei einer Konversion zur Orthodoxie getauft werden, kann eine solche Position nur als private, keineswegs als amtliche ekklesiologische Auffassung in der Orthodoxie bezeichnet werden. Für die Fragestellung unseres theologischen Tages nach der Position der mit Rom unierten östlichen Kirchen in der Gesamtheit der Kirche Gottes muss auf diesen Umstand verwiesen werden. Um nämlich über einen Platz für die Unierten in der Gesamtheit der Kirche Christi sprechen zu können, muss Übereinstimmung darüber bestehen, ob ihre Kommunitäten (und ganz allgemein die Kommunitäten der Katholiken) Kirche sind.

2) Beiderseitige Treue zur Glaubensüberlieferung

Viel Aufmerksamkeit wurde immer wieder verwandt auf die Frage, ob jene Christen, mit denen die Communio verloren ging, im Rahmen der Wahrheit des Evangeliums verblieben. Sowohl auf griechischer als auch auf lateinischer Seite betrieb man nach der Jahrtausendwende einschlägig eifrige Studien,[6] und auch gegenwärtig ist es Auftrag für die offizielle katholisch-orthodoxe Dialogkommission, den Kirchenleitungen ein Gutachten zu erstellen über die Rechtgläubigkeit der jeweils anderen Seite.

Theologen, die einräumen, dass auch jenseits der Grenzen ihrer eigenen Communio die Kirche zu finden ist, machen sich eines ekklesiologischen Widerspruchs schuldig, wenn sie zwar Kirchen anerkennen, die von ihrer Communio getrennt sind, bei diesen aber eine Verirrung im Glauben für möglich halten. Denn aus ekklesiologischen Gründen kann es in keiner Gemeinschaft, die als Kirche Christi anerkannt zu werden verdient, zu einem Verrat am Evangelium gekommen sein. Die Kirche ist nämlich die vom Heiligen Geist geleitete unfehlbare Lehrerin des heiligen Glaubens. Zwar bedeutet Unfehlbarkeit der Kirche nicht, dass sie die Fülle der Wahrheit aussprechen und alle Irr- und Umwege vermeiden könnte. Der hl. Paulus lehrte, dass dies der Kirche auf Erden nicht gewährt ist, als er schrieb, dass unser Erkennen und unser prophetisches Reden Stückwerk sind, und dass das Stückwerk erst vergeht, wenn das Vollendete kommt (Vgl. 1 Kor 13,9-10). Trotz Unfehlbarkeit sind unsere Kirchen also von Ungenügen gekennzeichnet und bedürfen in der Lehre ebenso steter Verbesserung wie in ihrem Leben. Unfehlbarkeit der Kirchen heißt nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass sich keine von ihnen dank des Beistands des Heiligen Geistes von der Wahrheit abkehren, sondern stets auf sie zugehen wird. Viel pastorale Mühe wird aber noch zu verwenden sein auf das Überführen der ekklesiologischen Überzeugungen in die kirchliche Praxis, bis die eben vorgetragene Einsicht auch das ekklesiale Wohlverhalten leiten wird. Dies gilt sowohl für Katholiken und Unierte, für die Schwesterkirchen außerhalb ihrer eigenen Communio vom 2. Vatikanischen Konzil amtlich anerkannt wurden, als auch für jene Orthodoxen, die persönlich eine solche Anerkennung vollziehen. Bei ihnen allen ist es bislang um die praktische Befolgung ihrer neuen theoretischen Erkenntnisse noch keineswegs gut bestellt.

Auf die Angriffe der Griechen gegen das filioque antwortete das Florentinum mit einer Begründung, die dem eben Gesagten gleicht, als es über die Rechtgläubigkeit jener dogmatischen Formulierungen zu urteilen hatte, mit denen Lateiner und Griechen von alters her das apostolische Erbe in menschlicher Unzulänglichkeit weitergaben. J. Gill fasst die Urteilsfindung so zusammen, dass die Väter von Florenz zur Einsicht fanden, das Symbolum sei mit und ohne filioque rechtgläubig, weil sich in den Diskussionen ergeben hatte, dass sich bereits die Kirchenväter beim Reden über den Ausgang des Heiligen Geistes unterschiedlicher Formulierungen bedienten; deren Rechtgläubigkeit aber sei unbestreitbar wegen der ihnen gewährten Führung durch den Heiligen Geist.[7]

Unseren Ökumenikern möchte man empfehlen, nicht weiter zu suchen, wie sich die Lehrtraditionen der Katholiken, der Orthodoxen und der mit Rom unierten Orientalen gegenseitig ausgleichen lassen, weil dies erfolglos bleiben wird, denn sie sind unabhängig voneinander auf je einem eigenen kulturellen Hintergrund herangewachsen und darum untereinander disparat. Man möge vielmehr dem Beispiel der Florentiner Väter folgen, welche die Vergleichsversuche nach langen Diskussionen abbrachen und sich auf die Gewissheit beriefen, dass der Heilige Geist Gemeinschaften, denen er durch die Fülle der Sakramente volles geistliches Leben gewährte, auch in der Wahrheit festigt.

Gegen diesen Vorschlag wird vielleicht eingewendet, dass sich das Florentinum keiner ungeteilten Zustimmung erfreue und daher kaum als Beispiel dienen könne. Doch ergibt sich auch in diesem Fall wie oben hinsichtlich der für ungeteilt gehaltenen spätantiken Reichskirche, dass sich das Bild gründlich ändert, wenn man auch auf jene historischen Vorgänge achtet, die bislang in der Regel übergangen wurden. Bei genauerem Überprüfen der Folgezeit erweist sich nämlich, dass die Lateiner die ekklesiologischen Aussagen dieses Konzils nur in Ausnahmefällen respektierten, obwohl sie es bereits in den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts in das amtliche Verzeichnis ihrer ökumenischen Konzilien eingetragen[8] und ihm viele Lobsprüche gewidmet hatten, während es unter den führenden Hierarchen und Theologen der Griechen, die dieser Versammlung nie die Ehre erwiesen, sie zu den ökumenischen Konzilien zu zählen, für seine Resultate mindestens zwei Jahrhunderte lang mehr Akzeptanz als Ablehnung gab.[9]

Ein Jahrzehnt nachdem Robert Bellarmin das Florentinum in seine Liste der ökumenischen Konzilien aufnahm, berief sich zum Beispiel die Synode der Kiever Metropolie ausdrücklich auf Florenz. Die Kiever Synodalen klagten beredt, dass man die Florentiner Einsichten vergessen habe. Im ersten von den 33 Punkten,[10] die sie dem Ansuchen um Communio mit Rom beigaben, legten sie dar:

„Da zwischen den Angehörigen der römischen Kirche und der griechischen Religion eine Meinungsverschiedenheit besteht über den Ausgang des Hl. Geistes, die die Union am meisten behindert, und dies fast aus keinem anderen Grund, als dass wir uns untereinander nicht verstehen wollen, fordern wir, zu keinem anderen Bekenntnis verpflichtet zu werden, sondern demjenigen folgen zu dürfen, das wir in den Schriften des Evangeliums und der heiligen Väter der griechischen Religion überliefert besitzen[11]...“

Nach langen Gesprächen hatten die Florentiner Väter festgestellt, dass die Zwietracht, die schon über Jahrhunderte hinweg zwischen Lateinern und Griechen geherrscht hatte, nicht die Glaubensgrundlagen betraf, sondern zurückging auf Starrsinn in der Verwendung bzw. Ablehnung bestimmter unterschiedlicher theologischer Ausdrucksweisen, mit denen man von alters her in menschlicher Unzulänglichkeit auf beiden Seiten bemüht war, ein und dasselbe apostolische Glaubenserbe auszusprechen. Sie hatten darum die Rechtgläubigkeit beider Seiten anerkannt. Nach Meinung der Kiever Synodalen war auch zu ihrer Zeit Mangel an wirklichem Aufeinander-Hören-Wollen die Ursache dafür, dass die theologischen Lehrformulierungen der jeweils anderen Seite falsch interpretiert wurden[12] und dass man sich um daraus erwachsener Missverständnisse willen gegenseitig verurteilte.

Reformbemühungen der Katholiken in nachtridentinischer Zeit brachten es leider mit sich, dass Verständnis und Akzeptanz für unterschiedliche Wege in der Theologie, wie sie die Väter beim Florentinum noch aufbrachten, verloren gingen. An den aufblühenden Schulen der Lateiner wollte man bald nur mehr die eigene Ausprägung der Lehre gelten lassen und alles abweichende Denken der Griechen verdächtigte man, gleich den Lehren der Protestanten aus einem Protest gegen eine ursprüngliche gemeinsame Theologie erwachsen zu sein. Waren sich die Florentiner Väter noch bewusst gewesen und hielten es nicht für verderblich, dass Griechen und Lateiner von Anfang an bemüht gewesen sind, auf je eigene Weise ein und dasselbe apostolische Glaubenserbe in menschlicher Unzulänglichkeit auszusprechen und dass sie sich deshalb verschiedenartige Theologien schufen, so wurde für die nachtridentinischen Theologen, die sich recht eingehend mit den Protestanten, aber nur wenig mit den Griechen befassten, größtmögliche Einheitlichkeit auch in der kirchlichen Lehre das Ziel.[13] Alle Lehrunterschiede zu den Griechen standen für sie im Verdacht, auf ein Abweichen von der den Römern anvertrauten Wahrheit zurück zu gehen. Im Interesse der Einheit waren diese ihrer Meinung nach zu beseitigen.

Um diese Zeit begann man, für die Kirchen der mit Rom unierten Orientalen eigene Katechismen zu verfassen. Auch diese standen im Dienst der Einheitlichkeit der Theologie in der römischen Communio. Man übernahm in ihnen - abgesehen von der Frage nach gesäuertem oder ungesäuertem Brot für die Eucharistie - die abendländischen Formeln zu den Unterscheidungslehren zwischen Griechen und Lateinern so eindeutig, dass sich die unierten Katechismen kaum abhoben von den Katechismen der Lateiner.[14] Ein über alle Maßen vereinheitlichendes Verhalten zeichnet W. de Vries auch bezüglich der theologischen Lehranstalten, die von den abendländischen Missionaren damals zum Heranbilden von Klerikern für die mit Rom unierten Kirchen eingerichtet wurden: die theologischen Lehrbücher, denen dort der Unterricht folgte, und die Frömmigkeitswege sowie die Andachtsformen, die man den Alumnen nahe brachte, waren nicht im Geringsten unterschieden von dem, was in den abendländischen Studentaten der betreffenden Ordensgemeinschaften Praxis war.[15]

Durch Patriarch Dositheos von Jerusalem, der sich im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts intensiv um eine Reorganisation des Schulwesens der Griechen mühte, wurde jener neuzeitlichen griechischen Theologie, die Petr Mogila in Aufgeschlossenheit für die Welt der Lateiner in der ersten Jahrhunderthälfte grundgelegt hatte, eine antilateinische Note verliehen.[16] Durch ihn wurde auch die Theologie der griechischen Kirchen auf Einheitlichkeit ausgerichtet und seine konfessionalistischen Anliegen wurden in der sogenannten Phanariotenzeit durchgesetzt. Somit standen sich an der Wende zum 18. Jahrhundert eine katholische und eine orthodoxe Communio gegenüber, die beide keine Divergenzen in der Theologie mehr tolerieren wollten. Für unsere Thematik wurde dies ausschlaggebend, denn östliche Christen, die es weiterhin für angemessen hielten, mit Petr Mogila dem Urteil der Väter von Florenz über die Rechtgläubigkeit der lateinischen Positionen zuzustimmen und den römischen Bischof als Haupt und Lehrer der Kirche anzuerkennen, blieb nur mehr der Weg, sich von der orthodoxen Communio abzutrennen und den Anschluss zu suchen an eine mit Rom unierte Kirchengemeinschaft. Die Vereinheitlichungstendenz auf orthodoxer Seite machte die Geburt weiterer unierter Kirchen unausweichlich.

Das 2. Vatikanische Konzil widersetzte sich dem Bestreben des 18./19. Jahrhunderts auf eine einheitliche Theologie in der Kirche und erklärte sogar, dass die Kirche ihre Katholizität und Apostolizität verlöre, wenn sie keinen Raum für Vielfalt mehr ließe.[17] Ausdrücklich spricht es in diesem Zusammenhang auch von Verschiedenheit in der theologischen Lehrverkündigung, die zur Folge hat, „dass von der einen und von der anderen Seite bestimmte Aspekte des offenbarten Mysteriums manchmal besser verstanden und deutlicher ins Licht gestellt wurden, und zwar so, dass man bei jenen verschiedenartigen Formeln oft mehr von einer gegenseitigen Ergänzung als von einer Gegensätzlichkeit sprechen muss"[18]. Hinterher ist die katholische Kirche von dieser Offenheit jedoch wieder abgerückt. Denn wiederum ließ man in mitteleuropäischer Denkweise einen Katechismus erstellen - wie einst nach dem Tridentinum den Catechismus Ecclesiae Catholicae - und ihn stilisierte man zum „Weltkatechismus" hoch, so dass er die Kirche daran hindern wird, hier und dort durch verschiedene Formulierungen in der Theologie bestimmte Aspekte des offenbarten Mysteriums deutlicher ins Licht zu rücken.

3) Das rechte Befolgen der Kirchenordnung: die kanonische Rechtmäßigkeit der einzelnen Kirchen

In unseren Tagen eignet der Frage nach der kanonischen Rechtmäßigkeit der Kirchen besondere Bedeutung für ihre wechselseitige Anerkennung. Worin aber besteht diese?

Posttridentinischen Katholiken erschien die Antwort auf diese Frage recht leicht, denn ihnen galten nur Kirchengemeinden, die in voller Einheit mit dem Papst standen, für kanonisch rechtmäßig und für wirklich zur Kirche Gottes gehörig. Papst Pius XII. trug ihre Ansicht in der Enzyklika "Mystici corporis" vom 22. Juni 1943[19] in der schärfsten Form vor, in der sie je in einem lehramtlichen Dokument ausgesprochen wurde. Dort heißt es: "Den Gliedern der Kirche sind nur jene in Wahrheit zuzuzählen, die das Bad der Wiedergeburt empfingen, sich zum wahren Glauben bekennen und sich weder selbst zu ihrem Unsegen vom Zusammenhang des Leibes getrennt haben noch wegen schwerer Verstöße durch die rechtmäßige kirchliche Obrigkeit davon ausgeschlossen worden sind ... Aus diesem Grunde können die, welche im Glauben oder in der Leitung voneinander getrennt sind, nicht in diesem einen Leib und aus seinem einen göttlichen Geiste leben." In der Enzyklika "Humani generis" vom 12. August 1950[20] rügte der Papst nochmals mit Nachdruck jene Theologen, die anders dachten: "Einige halten sich nicht gebunden an die vor einigen Jahren in einem Rundschreiben vorgelegte Lehre, die ... erklärt, dass der geheimnisvolle Leib Christi und die Ecclesia Catholica Romana ein und dasselbe sind."[21]

Durch Anerkennung wirklicher Kirchen außerhalb der Ecclesia Catholica Romana setzte jedoch die katholische Kirche auf dem 2. Vatikanischen Konzil diese Ansicht außer Kraft, und allenfalls noch verbliebenen Resten der einschlägigen posttridentinischen Auffassung widersprach das Dokument "Dominus Jesus" der römischen Kongregation für die Glaubenslehre vom 6. August 2000[22], welches darlegt: "Die Kirchen, die zwar nicht in vollkommener Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, aber durch engste Bande, wie die apostolische Sukzession und die gültige Eucharistie, mit ihr verbunden bleiben, sind echte Teilkirchen. Deshalb ist die Kirche Christi auch in diesen Kirchen gegenwärtig und wirksam, obwohl ihnen die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche fehlt, insofern sie die katholische Lehre vom Primat nicht annehmen..."

Der posttridentinischen katholischen Auffassung ist eine These verwandt, die auf orthodoxer Seite im Rahmen jener Theologie vertreten wurde, welche aus der Bildungsreform durch Patriarch Dositheos erwachsen ist. Diese These erschien manchen orthodoxen Dogmatikern wichtig genug, dass sie es bereits als Verstoß gegen die gottgewollte Kirchenordnung erachteten, auch nur die Existenz eines Erstbischofsamtes in der Kirche Christi in Erwägung zu ziehen. Die unierten Christen konnten natürlich in den Augen solcher Dogmatiker keine Gnade finden. Doch die orthodox-katholische Dialogkommission hielt den besagten Dogmatikern in der Erklärung von Ravenna (Nr. 41-45) entgegen, dass die ursprüngliche Taxis der Kirche sehr wohl einen Protos kannte; sie räumte allerdings ein – und darin stimmt sie mit dem Florentinum überein - dass es vertiefender Studien über die Modalitäten in der Amtsführung des Protos bedürfe.

Wir sind in einen Fragenbereich eingetreten, der von höchster Relevanz ist für die Suche nach einem Platz für die Unierten in der Gesamtheit der Kirche. Zu leidigen Problemen für eine Aussage über die kanonische Rechtmäßigkeit von Kirchen führen die zwei Fragen

· nach dem Territorium, das ihnen gebührt,

· und nach dem Zustandekommen ihrer Autonomie.

a) Die Territorialfrage wurde ein erstes Mal relevant, als im 7. Jahrhundert eine Vielzahl von Klerikern und Laien der Kirche von Zypern zusammen mit ihrem Erzbischof auf der Flucht vor den Arabern in die kleinasiatische Provinz Pontus auswich.[23] Dem Erzbischof wurde zugebilligt, dass seine Autonomierechte dort fortbestehen sollten, und eine Doppeljurisdiktion im Pontus war die Folge; das Quiniasextum hatte sich damit zu befassen. Doch die Kirche von Zypern konnte bald wieder in ihre Heimat zurückkehren, und so endeten die Probleme; es bedurfte keiner bleibenden kanonischen Regelung.

Infolge der Expansion von Staaten und infolge der Migrationen von Gläubigen größeren Ausmaßes wiederholten sie sich aber in der Folgezeit. Einige Fälle sollten wir besprechen.

Als das oströmische Reich nach Osten ausgreifen konnte, „überlagerte“ es die dortigen altorientalischen Kirchen mit Bistümern, die sich zur Theologie der sieben ökumenischen Konzilien bekennen; der damals eingetretene Zustand besteht bis heute fort.

Als die Normannen Süditalien eroberten,[24] anerkannten sie, dass die Griechen dieselben heiligen Sakramente feierten wie ihre eigene normannisch-lateinische Kirche. Sie hielten es deshalb für angebracht, über Griechen und über sich selber gemeinsame Bischöfe amtieren zu lassen.[25] Wo der Bischof Grieche war, wurde er dem römischen, nicht mehr dem konstantinopolitanischen Patriarchen unterstellt. Damit (und ohne dass bei ihm, bei seinem Klerus oder beim Volk ein Wandel im Glaubens- und Frömmigkeitsleben eingefordert worden wäre!) galt er als in Einheit getreten mit der Kirche der neuen Landesherren. Auch die Lateiner auf seinem Territorium waren dann Gläubige seiner Diözese. Sooft in der Folgezeit bei Wiederbesetzungen oder bei Neugründungen von Bistümern lateinische Bischofskandidaten zum Zug kamen, amtierten diese ebenso für Lateiner und Griechen, wie es andernorts die griechischen Bischöfe taten.

Auch die Kreuzfahrer hielten es so, als sie in den Osten kamen; sie machten aber ihren Einfluss dahingehend geltend, dass schnellstens Geistliche aus ihren Reihen auf die Bischofs- und Patriarchenstühle gewählt wurden. So kam es in den Kirchen der Patriarchate Antiochien und Jerusalem zu einer Art Fremdherrschaft, von der gut bekannt ist, dass sie keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stieß.[26] Doch darf nicht übersehen werden, dass es damals nicht nur durch ein Machtwort des Herrschers berufene gemeinsame Bischöfe gab, sondern in bestimmten Bereichen echte Gemeinsamkeit im geistlichen Leben, mehr wechselseitiges Einvernehmen also, als man üblicherweise vermutet; dies lässt sich zum Beispiel an den Bildprogrammen in den Kirchen des Kreuzfahrerstaates Jerusalem ablesen.[27]

Für das, was Normannen und Kreuzfahrer unternahmen, formulierte das 4. Laterankonzil 1214 eine (aus abendländischer Sicht kanonische) Rechtfertigung, indem es das für die Kircheneinheit Notwendige für erreicht einstufte, wenn die Kirchenführung in lateinischen Händen liegt. Diese so erlangte „kanonische Rechtmäßigkeit“ zerbrach im Orient sofort, als die Kreuzfahrerherrschaft endete. Auch bei der Expansion der Lateiner Polens und Litauens in die ruthenischen Lande war man gewillt, der lateranensischen kanonischen Ordnung zu folgen.[28] Doch dort stieß sie bald wegen der Anmaßungen, die sich die Lateiner in der Folgezeit erlaubten, auf energischen Widerstand. Anders war es in den Kolonien der Venezianer, wo die lateinische Oberschicht zu dünn war, als dass sie sich dem griechischen Kirchenleben gegenüber "anmaßend" hätte verhalten können. Noch 1725 berichtete Angelo Maria Quirini, der von 1723 bis 1727 (lateinischer) Erzbischof von Korfu war, in einem Brief an Papst Benedikt XIII. recht lebendig, wie ihn die Griechen der Insel als den Inhaber der kirchlichen Jurisdiktion über sie in aller Form kanonisch ehrten.[29]

Das Florentinum rückte von der vom Lateranense verfügten „kanonischen Rechtmäßigkeit“ wieder ab. Es anerkannte die Existenz des päpstlichen Primats im vollen Umfang und formulierte:

"Der heilige Apostolische Stuhl und der römische Bischof haben den Vorrang über den ganzen Erdkreis inne und er, der römische Bischof, ist der Nachfolger des seligen Petrus, des Ersten der Apostel, und wahrer Stellvertreter Christi, er ist Haupt der ganzen Kirche sowie Vater und Lehrer aller Christen, und ihm ist im seligen Petrus von unserem Herrn Jesus Christus die volle Gewalt gegeben worden, die universale Kirche zu weiden, zu leiten und zu lenken, wie es auch in den Akten der ökumenischen Synoden und den heiligen Kanones festgelegt ist.“

Sofort fügte es aber an:

„Wir erneuern auch noch die in den Kanones überlieferte Ordnung der übrigen verehrungswürdigen Patriarchen: Der Patriarch von Konstantinopel ist der zweite nach seiner Heiligkeit, dem Papst von Rom, der dritte ist der Patriarch von Alexandrien, der vierte der von Antiochien und der fünfte der von Jerusalem, natürlich unter Wahrung all ihrer Privilegien und Rechte."[30]

Die Florentiner Umschreibung der Autorität des Nachfolgers Petri war in Rom wohlgelitten, doch die einschränkende Klausel bezüglich der Modalitäten in der päpstlichen Amtsausübung überging man dort geflissentlich, als am Ende des 16. Jahrhunderts die Brester Union geschlossen wurde. Unverzüglich begann der päpstliche Nuntius in Polen, sich um die Unierten „zu bekümmern“, und als 1622 an der römischen Kurie die Congregatio de Propaganda Fide eingerichtet worden war, „vergaß“ man in Rom auf die Privilegien und Rechte der orientalischen Patriarchen, die diese herkömmlicher Weise in der Kiever Metropolie besaßen, und betraute die neue kuriale Instanz mit Aufsichtsrechten über die unierten Orientalen. (In ihrer Nachfolge übt gegenwärtig die römische Kongregation für die Ostkirchen Aufsicht über die mit Rom unierten östlichen Kirchen.) Mit dem römischen Verstoß gegen das Florentinum brauche ich mich aber nicht weiter zu befassen, weil davon in anderen Vorträgen unseres Studientags ausführlich die Rede sein wird. Es sei für jetzt genug, darauf zu verweisen, dass Metropolit Petr Mogila bereits in einem Memorandum von 1644, empört über die unmittelbare Unterstellung der Kiever Unierten unter eine römische Kurialinstanz nach Rom schrieb: „Es war aber so, dass der Summus Pontifex immer für den Ersten und Obersten in der Kirche Gottes gehalten wurde, als Stellvertreter Christi und als Vorsteher, dasselbe möge jetzt bewahrt bleiben; aber nirgends steht geschrieben, dass der lateinische Vorsteher unmittelbar über den griechischen Ritus gesetzt wäre, weil dieser immer seinen eigenen Vorsteher hatte, der zwar den Primat anerkannte, aber abhing vom Patriarchen des eigenen Ritus.“[31]

Zu Migrationen orthodoxer und unierter Christen größeren Ausmaßes kam es im 19./20. Jahrhundert. Sie haben zur Folge, dass nahezu alle orthodoxen und unierten Kirchen eine der weltweiten Verbreitung der lateinischen Kirche ähnliche Ausdehnung haben und seither einer Umschreibung der „kanonischen Rechtmäßigkeit“ ihrer Emigration bedürfen. Für die Emigration der unierten Kirchen, die im römischen Bischof einen Primas besitzen, konnte mit seiner Hilfe bereits eine „kanonische Rechtmäßigkeit“ erlangt werden, so dass sie weder unter sich noch mit den lateinischen Kirchen ihres neuen Siedlungsraumes „übers Kreuz leben“. Für die Emigration der orthodoxen Kirchen bemüht sich die panorthodoxe Bewegung seit langem ebenfalls um eine Rechtmäßigkeit. Doch haben die Probleme sich bei ihnen inzwischen so angetürmt, dass es derzeit nicht einmal möglich ist, eine authentische Antwort zu erhalten auf die Frage, mit wie vielen autokephalen bzw. autonomen orthodoxen Kirchen der begonnene Dialog weiterzuführen ist. Denn manche Kirchen mögen Außenstehenden wegen ihres sakramentalen und katechetischen Erbes als orthodoxe Kirchen erscheinen, doch wegen früherer unrechtmäßiger kanonischer Schritte werden sie nicht anerkannt als zur Communio der Orthodoxie gehörig. Die diesbezüglichen Listen in den größeren orthodoxen Kirchen weichen zudem voneinander beträchtlich ab.

b) Eine jede Kirche hat das Recht und die Pflicht, die göttlichen Gnadengaben in der gerade für ihre Gläubigen angemessenen Weise zu verwalten. Sofern sie die gesamtkirchliche Einheit nicht verletzen, steht es ihnen zu, ihr eigenes Leben zu führen, eigene Traditionen zu besitzen und auf Autonomie Anspruch zu erheben. Dabei müssen Kirchen, die für Menschen mit gemeinsamer Sprache, mit gemeinsamen Bräuchen und/oder mit gemeinsamem Kulturgut die göttlichen Gnadengaben in angemessener Weise zu verwalten haben, auch ein besonderes Miteinander aufweisen. Durch die ihnen gemeinsamen Merkmale unterscheiden sie sich dann auch von den übrigen Kirchen, und um diese Merkmale ausbilden und bewahren zu können, bedürfen sie der Autonomie und einer gemeinsamen Handlungsfähigkeit.

Was das Ausformen je eigener und für die konkreten Gläubigen passender kirchlichen Lebensformen anbelangt, haben die Kirchen byzantinischer Tradition in der Vergangenheit viel Erfahrung gesammelt. Sie mussten aber auch erfahren, dass es nicht leicht war, ohne Unterstützung durch einen allseits anerkannten Primas die entsprechenden Autonomien auszubilden.

So dauerte es zum Beispiel in Moskau mehr als 100 Jahre, bis der dort erhobene Anspruch auf Eigenstand durch die Vermittlung des Patriarchen Jeremias II. von Konstantinopel die Zustimmung der gesamten Communio der „Griechen“ erhielt. Auch in den jungen Nationalstaaten Südosteuropas wurde die Einrichtung der Nationalkirchen jeweils eingeleitet durch eine Phase gegen die kanonische Kirchenordnung gerichteter Wirren, die Exkommunikationen zur Folge hatten.

Zu einem Konsens über die angemessene Vorgangsweise beim Gewähren neuer Autonomien kam es in der Orthodoxie trotz aller Erfahrung mit regionalen Autonomierechten bisher noch nicht. Wie wird es in absehbarer Zukunft um die gegenwärtig unkanonisch genannten orthodoxen Kirchen stehen?

Nur in der Habsburgermonarchie, wo dem Wiener Kaiser Franz Joseph eine Protektorrolle über die Orthodoxie seines Reiches zugefallen war und die neuen Ordnungen von ihm in Kraft gesetzt werden mussten, ging das Einrichten der Autokephalien einvernehmlich vor sich. Denn der Kaiser hatte als Vorbedingung für seine Zustimmung den Konsens aller Beteiligten eingefordert.[32]

4) Zum Schluss nochmals das im Titel aufgeworfene Problem:

Weshalb bedarf es zwischen Katholiken und Orthodoxen, die Schwesterkirchen sind, der Unierten?

Ehe wir in Hinblick auf diese Frage zu den drei ausführlich behandelten Themen kurze Konklusionen ziehen, sei verwiesen auf Apg 5,38f, auf den Ausspruch Gamaliels: „wenn dieses Werk von Menschen stammt, wird es zerstört werden; stammt es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten; sonst werdet ihr noch als Kämpfer gegen Gott dastehen.“ Trotz aller Einwände, die mit mehr oder mit weniger Recht gegen die Unierten vorgebracht werden können: Sie sind geistliche Gemeinschaften, die Bestand haben seit Jahrhunderten. Ob ihre Widersacher sie lieben oder nicht, so müssen auch sie zur Kenntnis nehmen, dass Gottes Segen auf ihnen liegt, und weder Freund noch Feind darf einfachhin nach ihrem Verschwinden verlangen.

  • Bezüglich der heiligen Sakramente: In ihren Gotteshäusern feiern die mit Rom unierten östlichen Christen die nämlichen heiligen Sakramente wie die lateinischen Katholiken und die Orthodoxen; dass sie also Kirchen sind, könnte nur bestreiten, wer die Lehre des 2. Vatikanischen Konzils und zugleich die bisherigen Texte der orthodox-katholischen Dialogkommission verwirft. Wenn sie der Heilige Geist Kirchen sein lässt, spricht dies deutlicher für ihr Existenzrecht als alle Einwände, die gegen sie vorgebracht werden, dieses Recht anzufechten vermögen. Wer dies zu bestreiten wagt, stellt sich ins Abseits.

  • Bezüglich der Treue zur Glaubensüberlieferung: Weil die mit Rom unierten östlichen Gemeinschaften Kirchen sind, zielt ihre Glaubensüberlieferung auf die Wahrheit hin, wenngleich sie – wie auch die Überlieferung der lateinischen Katholiken und jene der Orthodoxen – unzulänglich ist und der Verbesserung bedarf. Nur wer ihr Kirche-Sein bestreitet, könnte sie einer wirklichen Häresie verdächtigen und daraus die Forderung auf ihre Selbstauflösung ableiten.

  • Bezüglich der kanonischen Rechtmäßigkeit: Auch die unierten Kirchen tragen Verantwortung für das geistliche Leben bestimmter Gläubiger, und auch ihnen stehen der nötige Eigenstand und die erforderliche Autorität innerhalb der Gesamtheit der Kirche Christi zu, die sie für den ihnen vom Herrn aufgetragenen Dienst benötigen. Da derzeit in unseren Kirchen noch keine allseitige Zustimmung über die Ausgestaltung ihres Platzes besteht, ist es unsere ökumenische Pflicht, uns eifrig um eine solche zu bemühen. Es wird eine „Selbstverständlichkeit“ werden müssen, dass neben den lateinisch-katholischen und den orthodoxen Schwesterkirchen auch die unierten Kirchen ihren angemessenen Platz finden in der Gesamtheit der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche, weil auch sie geleitet werden vom Heiligen Geist.

  • Im Programm unseres Studientages ist nach einer künftigen Rolle der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine in der Gemeinschaft der Kirchen gefragt, und es wird betont, dass diese Frage sowohl eine innerkatholische Angelegenheit darstellt, als auch „im Kreis der Schwesterkirchen von Rom, Konstantinopel und Moskau angesiedelt werden muss“. Innerkatholisch wird es erforderlich werden, zur Lehre des Florentinums zurückzukehren. Die Anerkennung der Existenz des päpstlichen Primats durch die Orientalen sei den Lateinern genug und ihre Unterstellung unter eine Behörde der römischen Kurie nehme ein Ende; statt dessen anerkenne Rom zusammen mit den Florentiner Vätern, dass die Kiever Metropolie dem Zuständigkeitsbereich von Konstantinopel (aufgrund der inzwischen eingetretenen kirchengeschichtlichen Entwicklung muss es heutzutage heißen: dem Zuständigkeitsbereich von Konstantinopel und Moskau) angehört. In Konstantinopel und Moskau aber sehe man ein, dass die ukrainische griechisch-katholische Kirche im Kreis der Schwesterkirchen byzantinischer Tradition jene Autonomie verdient, für die das heutige orthodoxe Kirchenrecht die Bezeichnung Autokephalie verwendet. Damit diese Entwicklung einsetzen kann, bedarf es innerkatholisch jener Neubesinnung bezüglich der Modalitäten in der Ausübung des römischen Primats, nach der Papst Johannes Paul II. im Dezember 1987 vor Patriarch Dimitrios I.[33] und in der Enzyklika „Ut unum sint“[34] verlangt hatte. Auf orthodoxer Seite bedarf es dafür vorher vermutlich der Lösung jener Probleme, die aus den großen Migrationen des 19. und 20. Jahrhunderts für sie erwuchsen, und einer übereinstimmenden Antwort auf die Frage nach der gegenwärtigen Anzahl der orthodoxen Autokephalien und Autonomien.

Wenn Sie mich allerdings fragen, für wann damit zu rechnen sei, dass eine volle „Selbstverständlichkeit“ in der Anerkennung der unierten Kirchen als Schwesterkirchen erlangt werden mag, kann ich nur auf das Wehen des Geistes verweisen, für das niemand Zeitfolgen anzugeben vermag. Doch hat uns sein Wehen im vergangenen halben Jahrhundert mehrfach und zwar ganz gewaltig überrascht. Es war noch vor zwei Jahrzehnten „höchst unwahrscheinlich“ erschienen, dass wir uns in der heutigen Zusammensetzung zu einem theologischen Studientag begegnen werden; dass die scharfe Grenzlinie mitten durch Europa aufhört; dass Vertreter der Unierten zur Teilnahme am orthodox-katholischen Dialog eingeladen werden. Mir scheint, dass wir gut beraten sind, wenn wir die nächsten Wunder des Heiligen Geistes für bald erwarten.



[1] Unitatis redintegratio, Art. 14

[2] Yves Congar, Zerrissene Christenheit, Wien 1959, S. 111, zitiert für die Jahrhunderte, in denen Griechen und Lateiner sechs von ihren sieben gemeinsamen ökumenischen Konzilien feierten, zwei kirchengeschichtliche Untersuchungen, die erbringen, dass damals in etwas weniger als in der halben Zeit zwischen Rom und Konstantinopel die Communio nicht bestand. In einer der Untersuchungen wird aufgezeigt, dass es in den 464 Jahren vom Beginn der Alleinherrschaft Konstantins (im Jahre 323) bis zum 7. ökumenischen Konzil (im Jahre 787) zwischen den Griechen und den Lateinern fünf Schismen von zusammen 203 Jahren gab. Die andere Untersuchung berichtet von sieben Schismen mit zusammen 217 Jahren, die es in den 506 Jahren vom Tod Kaiser Konstantins (im Jahre 337) bis zur endgültigen Annahme der Beschlüsse des 7. ökumenischen Konzils durch die Kaiserstadt Konstantinopel (im Jahre 843) gab. Auch zwischen anderen Patriarchaten hatte es bekanntlich damals Schismen gegeben.

[3] Als 1438/39 das Florentinum tagte, hielt man es immer noch so. Das Gegenteil aber war der Fall, als Papst Johannes XXIII. das 2. Vaticanum einberief. Dann vertrat man, dass orthodoxe Bischöfe und Theologen wegen des bestehenden Schismas nur als Beobachter teilnehmen könnten.

[4] Unitatis redintegratio, Art. 15.

[5] Der polnische Originaltext der Papstansprachen während der Polenreise vom 1. bis zum 9. Juni 1991 wurde in Beilagen zum Osservatore Romano veröffentlicht. Die Ansprache in der Kathedrale von Białystok (auf den Beilagenseiten XXI-XXII) war dem Osservatore Romano vom 10./11. Juni 1991 beigegeben; eine italienische Übersetzung wurde bereits in der Nummer vom 7. Juni abgedruckt.

[6] Für die Studien auf griechischer Seite vgl. H.G.Beck, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich, München 1959, S. 663 ff., für die Studien der Lateiner G. Avvakumov, Die Entstehung des Unionsgedankens, Berlin 2002.

[7] J. Gill, Konstanz und Basel-Florenz, Mainz 1967, S. 300f. Er führt aus, dass nach langen Verhandlungen eine Verständigung möglich wurde, als man "die klare Überzeugung gewonnen (hatte), dass ... beide (Seiten) recht hatten, da sie im Wesentlichen das Gleiche meinten, es aber in verschiedener Form ausdrückten. Diese Überzeugung beruhte auf einem Axiom, das ... keiner der in Florenz anwesenden Griechen zu leugnen gewagt hätte, so selbstverständlich war es ihnen: dass alle Heiligen als Heilige vom Heiligen Geist inspiriert sind und in Sachen des Glaubens miteinander übereinstimmen müssen. Die Vorstellung des Gegenteils hätte bedeutet, den Heiligen Geist zu sich selbst in Widerspruch setzen. Die Heiligen können ihren Glauben zwar in verschiedener Form ausdrücken, einander aber niemals widersprechen."

[8] V. Peri, Il numero dei concili ecumenici nella tradizione cattolica moderna, in: Aveum 37(1963)430-501, untersucht, wie es zur heute in der lateinischen Kirche gebräuchlichen Zählung der ökumenischen Konzilien kam. Er benennt dafür zwei entscheidende Daten: das Erscheinen des ersten Bandes der "Controversiae" des Robert Bellarmin im Jahr 1586 und den 21. Oktober 1595, an dem sich in Rom die für Publikationen zuständige Kardinalskongregation dafür entschied, das Florentinum als das 16. ökumenische Konzil zu zählen, wie es Bellarmin in seinen "Controversiae" getan hatte.

[9] Vgl. den Exkurs über zwei Versuche aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die theologischen Ergebnisse des Florentinums nachträglich zu rezipieren, bei Suttner, Staaten und Kirchen in der Völkerwelt des östlichen Europa, Fribourg 2007, S. 119-126.

[10] Eine deutsche Übersetzung der 33 Punkte mit ausführlichem Kommentar ist enthalten im Beitrag: Dokumente der Brester Union, übersetzt von Klaus und Michaela Zelzer mit Erläuterungen von Ernst Chr. Suttner, in: OstkStud 56(2007)206-252.

[11] Es geht um die Form des Glaubensbekenntnisses ohne filioque.

[12] Zu den übrigen sogenannten „Florentiner Punkten” ergibt sich dasselbe aus den Dokumenten der Kiever Synodalen, die sich im eben zitierten Beitrag finden. Dieselbe Zustimmung zu den Florentiner Ergebnissen erteilte auch Metropolit Petr Mogila in einem Memorandum, das er nach Rom sandte; vgl. den Beitrag: Das Memorandum von 1644 des Metropoliten Petr Mogila, übersetzt von Michaela und Klaus Zelzer mit Erläuterungen von E.Chr.Suttner, in: OstkStud 55(2006)66-83.

[13] In seinem eigenen Beitrag „Persönlichkeiten und Werk der Reformpäpste von Pius V. bis Clemens VIII” im: Handbuch der Kirchengeschichte (38. Kap.), IV, S. 533 charakterisiert H. Jedin die nachtridentinische Zeit als Suche nach größtmöglicher Einheitlichkeit und schreibt: „...eine Bibel, die Vulgata, eine Liturgie, die römische, ein Gesetzbuch garantierten die Einheit, ja schufen eine weit größere Einheitlichkeit des kirchlichen Lebens, als sie je in der vortridentinischen Kirche bestanden hatte...”

[14] Zwei Beispiele aus der unierten Kirche der Rumänen sind besprochen im Beitrag: Suttner, Der Gegensatz des Josif de Camillis im "Catechismuş său învaţătură creştinească" und des Gherontie Cotore in "Despre Articuluşurile Ceale De Price" zur Lehre und zur Ekklesiologie des Florentiner Konzils, in: Reconstituiri Istorice. Idei, Cuvinte, Representări (FS Mârza), Alba Iulia 2006, S. 175-188. (Für unsere Leser mag es hilfreich sein zu vermerken, dass der Aufsatz in deutscher Sprache verfasst ist, trotz der rumänischen Worte im Titel.)

[15] Vgl. die Abschnitte „Rom und der Glaube der Orientalen” sowie „Die geistige Latinisierung des Ostens” bei W. de Vries, Rom und die Patriarchate des Ostens, Freiburg 1963, S. 301-327.

[16] Vgl. den Abschnitt „Aggiornamento in den griechischen Kirchen“ bei Suttner, Staaten und Kirchen in der Völkerwelt des östlichen Europa, S. 154-175.

[17] „Dieses Heilige Konzil erklärt, dass dies ganze geistliche und liturgische, disziplinäre und theologische Erbe [der östlichen Kirchen] mit seinen verschiedenen Traditionen zur vollen Katholizität und Apostolizität der Kirche gehört. . ." (Unitatis redintegratio, 17).

[18] Unitatis redintegratio, 17.

[19] AAS 25(1943)193-248; deutsche Übersetzung in: H. Schäufele, Unsere Kirche, Heidelberg 1946.

[20] AAS 42(1950)561-578; deutsche Übersetzung in: Herderkorrespondenz 5(1950/51)25-31.

[21] Um das Ausmaß der Gewissensprobleme zu erfassen, die sich für die unierten Gläubigen auftaten, als sie auf Stalins Wunsch gezwungen werden sollten, auf ihre Verbindung zum Papst zu verzichten, muss man sich vergegenwärtigen, dass ihre Verfolgung ausgerechnet in den Jahren zwischen den Encykliken "Mystici corporis" und "Humani generis" einsetzte.

[22] AAS 92(2000)741-765.

[23] Hiervon berichtet V. Peri in einem Beitrag mit dem Titel „Le chiese nell’impero e le chiese „tra i Barbari”. La territorialità ecclesiale nella riforma canonica trullana”.

[24] Zu den im Folgenden besprochenen mittelalterlichen Versuchen der Lateiner, eine Kanonische Ordnung für ihre kirchliche Expansion zu schaffen, vgl. unseren Beitrag „Der Wandel im Verständnis der Lateiner von Schismen und von deren Überwindung”, der bald in den Orientalia Christiana Periodica erscheinen wird.

[25] Vgl. Suttner, Kircheneinheit im 11. bis 13. Jahrhundert durch einen gemeinsamen Patriarchen und gemeinsame Bischöfe für Griechen und Lateiner, in: OstkStud 49(2000)314-324.

[26] Von der Unzufriedenheit mit der „Fremdherrschaft” zeugte schon bald das Faktum, dass nach kurzer Zeit Wahlen von Gegenpatriarchen erfolgten. Doch diese sind nur als „Exilpatriarchen” zu zählen, da sie in dem Patriarchat, auf das sie Anspruch erhoben, keinerlei Jurisdiktion ausüben konnten. Ähnliche „Exilpatriarchen” wählten nach dem Ende der Kreuzfahrerherrschaft bekanntlich auch die Lateiner.

[27] Vgl. G. Kühnel, Wall Painting in the Latin Kingdom of Jerusalem, Berlin 1988.

[28] Vgl. die Ausführungen über die Kirche der Ruthenen in Polen-Litauen bei Suttner, Staaten und Kirchen in der Völkerwelt des östlichen Europa, S. 291ff.

[29] Sein Brief findet sich in: Sacra Congregazione per la Chiesa Orientale, Verbali delle conferenze patriarcali sullo stato delle Chiese Orientali, Vatikan 1945, S. 581-584.

[30] Zitat nach J. Wohlmuth (Hg.), Conciliorum oecumenicorum decreta, Paderborn 2000, II, S. 528.

[31] Vgl. Das Memorandum von 1644 des Metropoliten Petr Mogila, Übersetzung von Michaela und Klaus Zelzer und Erläuterungen von E. Ch. Suttner, in: OstkStud 55(2006)66-83, Zitat auf S. 73 f.

[32] Vgl. den Abschnitt „Auf dem Weg ins 20. Jahrhundert“, bei Suttner, Staaten und Kirchen in der Völkerwelt des östlichen Europa, S. 445-450.

[33] Vgl. L'Osservatore Romano vom 7./8.12.1987, S. 5.

[34] Vgl. Nr. 88-95, den Abschnitt „Der Dienst des Bischofs von Rom an der Einheit“.


Ernst Christoph Suttner

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